Entwurf einer Interpretation zur Kurzgeschichte "Ein netter Kerl" von Gabriele Wohmann

 

Gliedergung:

 

Textintention: Die Kurzgeschichte soll verdeutlichen, welche Folgen unachtsames Gesprächsverhalten im Alltag haben kann. Leser werden dazu angeregt, ihr eigenes Kommunikationsverhalten kritisch zu hinterfragen.

Inhalt: Dies wird dargestellt am Beispiel einer jungen Frau, deren Familie den Bekannten der Frau schlecht macht ohne zu wissen, dass sich die junge Frau mit dem Mann verlobt hat.

 

 

Erzähler:

Erzählform: Er/Sie-Form, der Erzähler selbst bleibt zumeist im Hintergrund

Erzählerstandort: mitten im Geschehen.

Erzählverhalten: neutral

Erzählhaltung neutral

Art der Darbietung: vornehmlich direkte Rede; szenisches Erzählen herrscht vor

 

Setting: nahezu zeitlos, Ort: Familie, möglicherweise Küchentisch à Wirkung: Leser können sich leichter mit der beschriebenen Situation und den Figuren identifizieren

Figuren und Konstellation: über die Figuren selbst wird wenig über den Erzähler vermittelt, eine Figurencharakterisierung erschließt sich Lesern lediglich aus dem Kommunikationsverhalten. à Wirkung / Effekt: Leser müssen das Kommunikationsverhalten genau analysieren

Aufbau der Handlung: szenisches Erzählen herrscht auf den ersten Blick vor. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass die innere Handlung ein großes Gewicht hat, wenngleich der neutrale Erzähler sich weitgehend zurücknimmt und zum Beispiel das Innenleben der Figuren nicht durch erlebte Rede oder den inneren Monolog für Leser zugänglich macht. Allerdings beschreibt der Erzähler das nonverbale Verhalten der zentralen Figur. Über eine Interpretation des nonverbalen Verhaltens wird das Innenleben der zentralen Figur deutlich. à Wirkung: neben der vordergründigen äußeren Handlung ist die innere Handlung von großer Bedeutung, möglicherweise ein Schlüssel zum Verstehen des Textes. Die „banale“ äußere Handlung verstärkt den Eindruck, dass es sich etwas scheinbar „Belangloses“ handelt, das allerdings bei näherer Betrachtung für Ritas Innenleben große Wichtigkeit hat

Sprache: Alltagssprache, üblicher Jargon einer Durchschnittsfamilie

Besonderheiten: Weglassen von Anführungszeichen als Kennzeichen der direkten Rede à Leser müssen aufmerksam lesen, da es sonst zu Verwirrung kommen kann und nicht mehr deutlich ist, welche Figur spricht.

Metaphorik: Z. 24f. „Das Lachen schwoll an, türmte sich vor ihr auf…“ Bildspender bzw. Bildspendebereich: Welle, Meer, Wasser. Bildempfänger: Ritas innere Befindlichkeit angesichts der verbalen Attacken ihrer Familienmitglieder. Die Metapher deute ich daher so, dass Rita nach einigen verbalen Attacken die Angriffe ihrer Familienmitglieder „über sich hinwegspülen“ lässt; in diesem Zustand findet sie einen Moment der Ruhe. Dennoch ist sie „quasi unter Wasser“ isoliert von der Familie à deutlicher Hinweis auf eine gestörte Kommunikation / Beziehung

 

Die Kurzgeschichte „Ein netter Kerl“ von Gabriele Wohmann verdeutlicht, welche Folgen ein unachtsames Gesprächsverhalten haben kann. Leser sollen möglicherweise dazu angeregt werden, ihr eigenes Gesprächsverhalten in scheinbar belanglosen Situationen kritisch zu hinterfragen. Dies wird dargestellt am Beispiel einer jungen Frau, deren Familie schlecht über einen Bekannten der Frau redet, ohne zu wissen, dass sich die junge Frau mit dem Mann verlobt hat.

 

Zentral für meine Interpretation der Kurzgeschichte ist das in dem Text dargestellte Gesprächsverhalten der Familienmitglieder sowie die Reaktion der Hauptfigur, Rita, auf das Verhalten der Familie.

Der Standort des Er-Erzählers ist mitten im Geschehen, was bewirkt, dass sich Leser beim Lesen fühlen, als säßen sie mit der Familie am Tisch und könnten den Figuren bei ihrer Unterhaltung zuhören. Der Erzähler in dieser Kurzgeschichte hält sich weitgehend im Hintergrund, d.h. er kommentiert und bewertet das Verhalten der Figuren nicht. Dies hat zur Folge, dass Leser angeregt werden, sich selbst ein Urteil über das Verhalten der Figuren zu bilden. Diesen Effekt (diese Wirkung) kann ich zudem damit begründen, dass in der Kurzgeschichte die direkte Rede nicht mit Anführungszeichen gekennzeichnet ist, sodass Leser sehr aufmerksam lesen müssen, um nachvollziehen zu können, welche Figur spricht.

 

In meiner Interpretationshypothese behaupte ich, dass sich die Familienmitglieder in ihrem Gespräch unachtsam (unsensibel) verhalten. Dies begründe ich damit, dass die Familienmitglieder sehr wohl bemerken könnten, dass der Bekannte Ritas ein naher Bekannter ist; dennoch sprechen die Familienmitglieder abfällig von ihm (vgl. zum Beispiel Z.1-2). Die Familie lästert (Z. …), redet abfällig (…) macht sich lustig, ….

 

Dass Rita verletzt reagiert, wird nicht durch den Erzähler direkt beschrieben. Allerdings wird die innere Befindlichkeit Ritas deutlich, wenn man genauer untersucht, wie der Erzähler das nonverbale Verhalten Ritas beschreibt. (Fingerkuppen ins Holz, feucht klebrig)… Dieses nonverbale Verhalten lässt Lesern deutlich werden, wie Rita auf die Attacken der Familie reagiert, obwohl sie selbst nicht antwortet und der Erzähler ihre Gedanken nicht beschreibt (z.B. in Form einer erlebten Rede oder eines inneren Monologs). „Fingerkuppen ins Holz“: Wenn jemand die Finger fest in einen Holztisch drückt, so bedeutet das meiner Ansicht nach, dass er angespannt ist, seine Anspannung aber nicht mit Worten herauslässt, sondern unterdrückt. Die Anspannung macht sich Luft, indem man zum Beispiel fest in einen Tisch greift. Dass sich Rita am Stuhl festklammert (vgl. Zeile…) interpretiere ich so, dass Rita sich alleine und schutzlos den Attacken ihre Familie ausgeliefert fühlt. Das Festklammern an der Stuhllehne ist ähnlich wie das Festhalten eines Ertrinkenden an einen Baumstamm.

Mit diesen Beispielen habe ich gezeigt, dass sich Rita attackiert fühlt. Die Familienmitglieder könnten, wenn sie aufmerksamer wären, bemerken, dass sie sich Rita gegenüber unsensibel verhalten. Hierfür müssten sie aber genauer auf die Signale achten, die Ritas Körpersprache aussendet.

Die Metaphorik (Z…. ) macht die Verletztheit Ritas und ihre Isolation von den anderen am Tisch bildhaft deutlich. Der Bildspender ist für mich eine Welle bzw. Wasser und bezieht sich auf den Bildempfänger, nämlich das Verhalten der Familie. Wie bei einer Welle spülen die Worte der anderen Rita unter Wasser, wo sie allein ist, aber immerhin einen Moment Ruhe vor den Attacken hat. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass die Ruhe für Rita nur dann eintritt, wenn sie von ihren Familienmitgliedern isoliert ist (nämlich unter Wasser, wo sie die Worte der anderen nicht mehr hört)

 

 

Ritas Verhalten am Ende der Geschichte könnte darauf schließen lassen, dass sie selbst sich auf das Gesprächsniveau ihrer Familie herablässt. ((Z.37). Allerdings darf man hierbei nicht übersehen, dass Rita – so der Erzähler – „versuchsweise“ (Z. …) über ihren Bekannten lacht, dementsprechend ist ihr Verhalten aufgesetzt, unecht. Ich deute ihr Verhalten so, dass sie ihrer Familie dabei behilflich sein will, die peinliche und unangenehme Situation zu entspannen.

 

Ich habe mithilfe meiner Analyse und der Interpretation der für mich wichtigsten Besonderheiten des Textes von Wohmann meine Lesart (mein Textverständnis) erläutern können. In meiner Interpretation bin ich allerdings nicht auf die Tatsache eingegangen, dass sich Ritas Schwester, Milene, anfangs noch in ihren Attacken zurückhält und erst später mit in den „Chor“ der lästernden Familienmitglieder einstimmt. Ich halte dieses Detail nicht für so bedeutsam, dass es meine Interpretation der Kurzgeschichte in Frage stellen würde. Möglicherweise wird Lesern durch das Beispiel Milenes deutlich, wie sehr in solchen unachtsam geführten Alltagsgesprächen Gruppenzwang eine Rolle spielt.