Das Gedicht „Komm in den totgesagten park und schau“ von Stefan George beschreibt eine Herbststimmung, die unwirklich und traumhaft wirkt. Diese Stimmung kann möglicherweise auf die Befindlichkeit des Sprecher-Ichs übertragen werden.


Das Gedicht ist auf den ersten Blick sehr gleichförmig aufgebaut: Es setzt sich aus drei Strophen zusammen, die jeweils aus vier Versen bestehen. Der gleichmäßige, fast durchgängig eingehaltene Jambus gibt dem Gedicht auf der klanglichen Ebene eine ruhige, langsam voranschreitende Wirkung. Auffällig ist allerdings, dass sich das Reimschema von Strophe zu Strophe wandelt. In der ersten Strophe stelle ich einen Kreuzreim, in der zweiten Strophe einen Paarreim und in der dritten Strophe einen umarmenden Reim fest. Als weitere Besonderheit fällt mir auf, dass der Dichter auf die Großschreibung von Substantiven verzichtet. Die vorherrschenden Bilder des Gedichts sind Herbsteindrücke wie zum Beispiel Pflanzen: „birken und buchs“ (Vers 6), „rosen“ (Vers 7), „astern“ (Vers 9) „ranken wilder reben“ (Vers 10). Zu den – möglicherweise durch die Herbstpflanzen ausgelösten – Assoziationen passen die zahlreichen Farbadjektive: „blau“ (Vers 3) „bunten“ (Vers 4), „gelb, das weiche grau“ (Vers 5), „purpur“ (Vers 10), „grünem Leben“ (Vers 11). Als letzte formale Besonderheit nenne ich die in jeder Strophe dominierenden Imperative „Komm“ (Vers 1), „nimm“ (Vers 5), „Erlese“ (Vers 8), „Vergiss“ (Vers 9), „Verwinde“ (Vers 12). Diese Imperative sind direkte Aufforderungen an den Leser des Gedichtes und verleihen dem Gedicht eine Eindringlichkeit.

Ich deute Georges Gedicht, wie ich bereits zu Anfang erwähnt habe, nicht als eine übliche Beschreibung einer Herbstlandschaft, sondern auch und gerade als einen Ausdruck der inneren Befindlichkeit des Sprecher-Ichs. Mir kommt es vor, als beschwöre das Sprecher-Ich sich selbst und die Leser des Gedichts, um die Schönheit des Lebens in der herbstlich-sterbenden Landschaft zu erkennen und zu bewahren. Die Sterbe-Assoziation kann ich sehr leicht nachweisen, indem ich auf den ersten Vers des Gedichtes verweise: „Komm in den totgesagten park“ (Vers 1). Ein totgesagter Park ist kein toter Park, sondern nur einer, von dem andere meinen, er sei tot und gestorben. Der Imperativ am Ende des ersten Verses „schau“ (Vers 1) scheint anzudeuten, dass es in diesem totgesagten Park, entgegen der üblichen Erwartungshaltung, etwas zu entdecken gibt. Was es zu sehen und zu entdecken gibt, wird in den nächsten Versen beschrieben. Ich will allerdings an dieser Stelle bereits erwähnen, dass das zu Entdeckende für das Sprecher-Ich anscheinend etwas sehr Kostbares ist, denn das Gedicht endet damit, dass das Sprecher-Ich dazu auffordert, alles Gesehene zu „verwinden“ „im herbstlichen Gesicht“ (Vers 12). Ich deute das ungewöhnliche Verb „verwinden“ im Sinne von „flechten“, „einflechten“ (das Ende des achten Verses unterstützt diese Deutung), demnach fordert der Sprecher sich selbst und Leser dazu auf, all das Gesehene als etwas Wertvolles zu bewahren.

Die beschriebene Herbststimmung wirkt auf mich, als wäre sie unwirklich, wie in einem Traum wahrgenommen. Dies begründe ich damit, dass sich das zu Sehende offenbar nicht in direkter Umgebung eines realen Parks befindet, sondern in größerer Entfernung: „Der schimmer ferner lächelnder gestade“. Die im vierten Vers erwähnten „pfade“ deute ich ebenfalls als einen Hinweis darauf, dass man, um etwas Sehenswertes zu entdecken, auf eine Reise gehen muss: Hier im wörtlichen Sinne auf eine Reise in eine Naturlandschaft; im übertragenen Sinne könnte (ich betone: könnte, nicht muss) diese Reise auch ein Sehnen nach etwas Schönem im inneren eines Menschen bedeuten.

Die dritte und vierte Strophe nimmt Leser mit auf die Reise (wörtlich oder metaphorisch) und zeigt ihnen, wie kostbar und reich die „totgesagte“ Landschaft ist: Der feierliche Ton, in dem die Beobachtungen beschrieben werden, das erwähnen von „bloßen“ Farben, als wären sie allein schon etwas Besonderes, unterstützen meine These. Die Imperative „Erlese“ und „küsse“ (Vers 8) deuten ebenfalls an, dass es sich bei den beschriebenen Entdeckungen um etwas sehr Kostbares handeln muss, denn üblicherweise küssen Menschen nicht etwas Gewöhnliches, Alltägliches.

Zum Abschluss meiner Deutung des George-Gedichtes möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass dieser Text nicht sehr konkret ist. Damit bekommen Leser die Möglichkeit, viel freier zu deuten und sich von ihren eigenen Assoziationen leiten zu lassen, als dies bei anderen Gedichten der Fall ist. Es scheint aber gerade diese Freiheit des Lesens und Assoziierens zu sein, die der Text unbedingt und ausdrücklich zulassen möchte, denn anderenfalls hätte der Text viel konkreter gestaltet werden müssen. Es könnte daher nahe liegen, dass eben die Aufforderung an Leser, sich von den eigenen Assoziationen leiten zu lassen, ihnen eine ähnlich wertvolle Reise ins eigene Ich, in die eigene Vorstellungswelt ermöglicht, wie sie in den Strophen des Gedichts am Beispiel einer Reise durch eine Herbstlandschaft gestaltet ist.