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Vorüberlegungen und Analyse der formalen Besonderheiten: 

-         Versmaß: Jambus

-         Reimschema: ungewöhnlich (keines der üblichen, häufig vorkommenden) – dennoch ist ein Reimschema erkennbar

-         4 Strophen – unregelmäßige Verszahl

-         1. Strophe 3 Verse; 2., 3. 4. Strophe jeweils 2 Verse

-         Thema und vorherrschende Bilder / Motive:

-         Thema = Herbst (und erweitert steht der Herbst hier für Vergänglichkeit, für eine Abwärtsbewegung ausgelöst durch das Fallen der Blätter). In dem Gedicht bleibt es aber nicht bei einer Naturbeschreibung, sondern es wird eine direkte Verbindung zum Leben von Menschen hergestellt, das ebenfalls vergänglich ist. Eine denkbare Sinnfrage (was ist das Leben? Wer lenkt das Leben? Was ist der Sinn des Lebens, obwohl es doch vergänglich ist) wird aufgeworfen.

-         Bilder:

-         Fallbewegung der Blätter (rhythmisch unterstützt) (Verb „fallen“ 7 Wortformen des Verbs „fallen“ kommen in dem Gedicht vor à das muss auffallen!).

-         Der Sprecher des Gedichts scheint eine Herbststimmung zu betrachten, in der die Blätter welken (absterben) und fallen. Diese Beobachtung überträgt der Sprecher auf einen „himmlischen“ Bereich – üblicherweise der Ort, an dem man die Götter – den Gott vermutet. Die Übertragung setzt sich fort, indem der Sprecher die Fallbewegung auf die Erde (den Planeten) überträgt, welche er als aus den Sternen „fallend“ beschreibt. Hiermit wird dann daran erinnert, dass die Erde selbst möglicherweise auch nicht unendlich lange existieren wird. Von dort aus wird das Fallen auf einzelne Menschen übertragen: Wir alle fallen. Es ist in allen. à Es=die Vergänglichkeit, der Makel des Sterbenmüssens.

-         In den Händen hält: ein Stoppen der Fallbewegung zum Halten. Attribut: unendlich sanft.

Grobe Gliederung der Interpretation:

1. Einleitung (mit Deutungsansatz - Interpretationshypothese)

2. Beschreibung der formalen Besonderheiten (ohne bereits den Text zu deuten)

3. Deutung des Textes (auf Begründung der jeweiligen Lesart achten, formale Besonderheiten in Auswahl als Begründungsmöglichkeiten mit einbeziehen)

4. Abschluss: offene Fragen

 Interpretation:

In dem Gedicht „Herbst“ von Rainer Maria Rilke beobachtet ein Sprecher-Ich das Herabfallen von Blättern im Herbst, was bei dem Sprecher-Ich die Frage nach dem Sinn des Lebens angesichts der Endlichkeit / Vergänglichkeit allen Lebens auslöst.

(Hierin ist die Interpretationshypothese enthalten: Sie kann unter Umständen später – am Anfang der Deutung – ausgeschärft werden)

Rilkes Gedicht „Herbst“ besteht aus 4 Strophen, die eine unregelmäßige Verszahl aufweisen. Die erste Strophe setzt sich aus drei Versen zusammen, die nächsten drei Strophen bestehen jeweils aus zwei Versen. Rilkes Gedicht weist zwar Reime auf, allerdings handelt es sich um ein ungewöhnliches Reimschema (also weder Paar- noch Kreuz- noch umarmender Reim). Das Reimschema ist folgendermaßen gestaltet: abc ca de ed. Ich stelle in dem Gedicht ein fest stehendes Versmaß fest, nämlich einen Jambus. Als vorherrschendes Bild sehe ich das Fallen der Blätter im Herbst (vgl. die Verben bzw. die Wortformen des Verbs „fallen“ (Verse 1, 3, 4, 6, 8). Im Verlauf des Gedichts wird das Bild der fallenden Blätter allerdings (metaphorisch) erweitert bzw. übertragen auf andere Bereiche des Lebens (nämlich das Menschenleben).

 

Wie ich in meiner Einleitung bereits formuliert habe, lese ich Rilkes Gedicht nicht bloß als Beschreibung einer Naturerscheinung (das Fallen der Blätter im Herbst), sondern ebenfalls als eine Auseinandersetzung mit der Frage, warum und wozu Menschen überhaupt leben, wenn sie doch wissen, dass ihr Leben endlich ist. Diese These werde ich in den folgenden Zeilen begründen.

 

In der ersten Strophe wird deutlich das Naturphänomen des Blätterfallens beschrieben (Vers 1 „die Blätter fallen“). Ich stelle mir vor, dass das Sprecher-Ich zum Beispiel in der Herbstzeit am Fenster steht und das Fallen der Blätter beobachtet. (Wie bei Rilke üblich) wird diese Fallbewegung durch die Klangebene des Gedichts unterstützt: Das im ersten Vers doppelt vorkommende Verb „fallen“ zwingt den Sprecher beim Lesen dazu, eine Pause einzulegen, bevor er mit demselben Wort sein Sprechen fortsetzt („Die Blätter fallen, fallen wie von weit“ (Vers 1)). Diese Pause verbinde ich mit dem Innehalten der fallenden Blätter im Wind.

Die Herbststimmung scheint im Sprecher ein Nachdenken über das Leben an sich auszulösen, denn in den folgenden Strophen wird nicht mehr bloß eine Herbstlandschaft beschrieben, sondern der Sprecher überträgt das Fallen (das Bild des Fallens der Blätter) – also das Absterben und Herunterfallen der Blätter – metaphorisch auf andere Bereiche. In der zweiten Strophe überträgt das Sprecher-Ich den Bildspender, der mit dem Fallen der Blätter verbunden ist und der für das Sterben von etwas Belebtem steht, auf einen anderen Bildempfänger, nämlich den Planeten „Erde“, der „in den Nächten“ aus „allen Sternen“ fällt (Vers 4 und 5). Ich stelle mir hierbei vor, dass der Planet Erde sich beständig im Weltall bewegt, was das Sprecher-Ich dazu veranlassen könnte, die Erde als fallend zu betrachten. Da der Bildspender (die vom Baum fallenden Blätter) mit dem Absterben von Lebendigem verbunden ist, wird dieser Aspekt auch auf die vom Sprecher-Ich festgestellte Fallbewegung der Erde übertragen: Ein Zeichen davon, dass auch der Planet Erde nicht ewig ‚leben’ wird.

In der dritten Strophe wird der Bildspender auf das Menschenleben übertragen („Wir alle fallen.“ (Vers 6)). Ich deute das „Wir“ als einen Hinweis auf ‚Wir Menschen’ – und ausgelöst durch den Bildspender heißt dieser Vers für mich, dass wir Menschen alle sterblich sind.

In der letzten Strophe wird die Fallbewegung aufgehalten und damit auch ein Signal gegen das Absterben von Lebendigem gegeben, indem hier der Sprecher zum ersten Mal ein Verb verwendet, das der Fallbewegung entgegenwirkt: „hält“ (Vers 9). „Einer“, das im 8. Vers großgeschrieben ist und für mich daher ein Signal beinhaltet, dass es sich möglicherweise um Gott handelt, hält „Fallen unendlich sanft in seinen Händen“ (Vers 8 und 9). Mir scheint es, als ob das Sprecher-Ich mit diesen letzten Versen zwar nicht die Endlichkeit allen menschlichen Lebens aufheben kann, und doch scheint von diesen Versen eine Art Hoffnung auszugehen. Das Fallen wird als natürlicher Bestandteil eines höheren Prinzips beschrieben und verliert somit seinen Schrecken. Die Attribute „unendlich sanft“ sind positiv konnotiert und wirken dem negativ besetzten Fallen der Blätter entgegen. An dieser Stelle kann ich meine Deutung zusätzlich mit einem Hinweis auf das eingangs als ungewöhnlich bezeichnete Reimschema untermauern: Wenn sich zu Anfang des Gedichts kein ‚ordnendes Prinzip’ durch einen klaren Aufbau der Reime für Leser ergibt, so erkenne ich in den letzten zwei Strophen des Gedichts einen umarmenden Reim. Es scheint mir denkbar zu sein, dass es sich hier nicht um einen Zufall handelt, sondern dass der Text bewusst so gestaltet ist, dass nach der ausführlichen Beschreibung des ‚haltlosen Fallens’ der ‚Halt’ der letzten Strophe zusätzlich auch durch die Reimstruktur unterstützt wird.

 

In meiner Interpretation des Gedichts „Herbst“ bin ich nicht auf die Deutung von „Diese Hand da fällt.“ aus Vers 6 eingegangen, da ich zurzeit keinen Deutungsansatz zur Verfügung habe. Eine Deutung ließe sich aber möglicherweise mit einem Blick in die einschlägige Forschungsliteratur zu dem Rilketext finden.